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(2018) Logische Untersuchungen. Erster Band, Genève-Lausanne, sdvig press.

Vorwort

Edmund Husserl

pp. 5-7

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Husserl, E. (2018). Vorwort, in Logische Untersuchungen. Erster Band, Genève-Lausanne, sdvig press, pp. 5-7.

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Vorwort Husserl Edmund; Archiving of XML in sdvig press database Open Commons July 16, 2019, 1:28 pm ( )

1Die logischen Untersuchungen, deren Veröffentlichung ich mit diesen Prolegomena beginne, sind aus unabweisbaren Problemen erwachsen, die den Fortgang meiner langjährigen Bemühungen5| um eine philosophische Klärung der reinen Mathematik immer wieder gehemmt und schließlich unterbrochen haben. Neben den Fragen nach dem Ursprung der mathematischen Grundbegriffe und Grundeinsichten betrafen jene Bemühungen zumal auch die schwierigen Fragen der mathematischen Theorie und Methode.10| Was nach den Darstellungen der traditionellen oder wie immer reformierten Logik hätte leicht verständlich und durchsichtig erscheinen müssen, nämlich das rationale Wesen der deduktiven Wissenschaft mit ihrer formalen Einheit und symbolischen Methodik, stellte sich mir beim Studium der wirklich gegebenen15| deduktiven Wissenschaften dunkel und problematisch dar. Je tiefer ich analytisch eindrang, um so mehr kam es mir zum Bewußtsein, daß die Logik unserer Zeit an die aktuelle Wissenschaft nicht hinanreiche, welche aufzuklären sie doch berufen ist.

2Besondere Schwierigkeiten bereitete mir die logische Durch20|forschung der formalen Arithmetik und Mannigfaltigkeitslehre, dieser über alle Besonderheiten der speziellen Zahlen- und Ausdehnungsformen hinausreichenden Disziplin und Methode. Sie nötigte mich zu Erwägungen von sehr allgemeiner Art, welche sich über die engere mathematische Sphäre erhoben und einer25| allgemeinen Theorie der formalen deduktiven Systeme zustrebten.[A VI][B VI] Von den Problemreihen, die sich mir dabei aufdrängten, sei hier nur eine bestimmter bezeichnet.

3Die offenbare Möglichkeit von Verallgemeinerungen bzw. Abwandlungen der formalen Arithmetik, wodurch sie ohne wesent30|liche Änderung ihres theoretischen Charakters und ihrer rechnerischen Methodik über das quantitative Gebiet hinausgeführt6 werden kann, mußte die Einsicht erwecken, daß das Quantitative gar nicht zum allgemeinsten Wesen des Mathematischen oder "Formalen" und der in ihm gründenden kalkulatorischen Methode gehöre. Als ich dann in der "mathematisierenden Logik"5| eine in der Tat quantitätslose Mathematik kennenlernte, und zwar als eine unanfechtbare Disziplin von mathematischer Form und Methode, welche teils die alten Syllogismen, teils neue, der Überlieferung fremd gebliebene Schlußformen behandelte, gestalteten sich mir die wichtigen Probleme nach dem allgemei10|nen Wesen des Mathematischen überhaupt, nach den natürlichen Zusammenhängen oder etwaigen Grenzen zwischen den Systemen der quantitativen und nichtquantitativen Mathematik, und speziell z. B. nach dem Verhältnis zwischen dem Formalen der Arithmetik und dem Formalen der Logik. Naturgemäß mußte15| ich von hier aus weiter fortschreiten zu den fundamentaleren Fragen nach dem Wesen der Erkenntnisform im Unterschiede von der Erkenntnismaterie und nach dem Sinn des Unterschiedes zwischen formalen (reinen) und materialen Bestimmungen, Wahrheiten, Gesetzen.

420|Aber noch in einer ganz anderen Richtung fand ich mich in Probleme der allgemeinen Logik und Erkenntnistheorie verwickelt. Ich war von der herrschenden Überzeugung ausgegangen, daß es die Psychologie sei, von der, wie die Logik überhaupt, so die Logik der deduktiven Wissenschaften ihre philosophische25| Aufklärung erhoffen müsse. Demgemäß nehmen psychologische Untersuchungen in dem ersten (und allein veröffentlichten) Bande meiner Philosophie der Arithmetik einen sehr breiten Raum ein. Diese psychologische Fundierung wollte[A VII][B VII] mir in gewissen Zusammenhängen nie recht genügen. Wo es sich um die Frage nach30| dem Ursprung der mathematischen Vorstellungen oder um die in der Tat psychologisch bestimmte Ausgestaltung der praktischen Methoden handelte, schien mir die Leistung der psychologischen Analyse klar und lehrreich. Sowie aber ein Übergang von den psychologischen Zusammenhängen des Denkens zur logischen35| Einheit des Denkinhaltes (der Einheit der Theorie) vollzogen wurde, wollte sich keine rechte Kontinuität und Klarheit heraussteilen lassen. Um so mehr beunruhigte mich daher auch der prinzipielle Zweifel, wie sich die Objektivität der Mathematik und aller Wissenschaft überhaupt mit einer psychologischen Be7gründung des Logischen vertrage. Da auf solche Weise meine ganze, von den Überzeugungen der herrschenden Logik getragene Methode — gegebene Wissenschaft durch psychologische Analysen logisch aufzuklären — ins Schwanken geriet, so sah ich mich5| in immer steigendem Maße zu allgemeinen kritischen Reflexionen über das Wesen der Logik und zumal über das Verhältnis zwischen der Subjektivität des Erkennens und der Objektivität des Erkenntnisinhaltes gedrängt. Von der Logik überall im Stiche gelassen, wo ich von ihr Aufschlüsse in Beziehung auf die bestimm10|ten Fragen erhoffte, die ich an sie zu stellen hatte, ward ich endlich gezwungen, meine philosophisch-mathematischen Untersuchungen ganz zurückzustellen, bis es mir gelungen sei, in den Grundfragen der Erkenntnistheorie und in dem kritischen Verständnis der Logik als Wissenschaft zu sicherer Klarheit vorzu15|dringen.

5Wenn ich nun diese, in vieljähriger Arbeit erwachsenen Versuche zur Neubegründung der reinen Logik und Erkenntnistheorie veröffentliche, so tue ich es in der Überzeugung, daß die Selbständigkeit, mit der ich meine Wege von denen20| der herrschenden logischen Richtung abscheide, mit Rücksicht auf die ernsten sachlichen Motive, die mich geleitet haben, eine Mißdeutung nicht erfahren wird. Der Gang meiner Entwicklung hat es mit sich gebracht, daß ich mich von den[A VIII] Männern und Werken, denen meine wissenschaftliche Bildung[B VIII] am meisten25| verdankt, in den logischen Grundüberzeugungen weit entfernt und mich andererseits einer Reihe von Forschern beträchtlich genähert habe, deren Schriften nach ihrem Werte zu schätzen ich früher nicht vermocht und die ich daher während meiner Arbeiten nur zu wenig zu Rate gezogen [hatte]1.Von einer nach30|träglichen Einfügung umfassender literarischer und kritischer Hinweise auf verwandte Forschungen mußte ich leider absehen. Was aber die freimütige Kritik anbelangt, die ich an der psychologistischen Logik und Erkenntnistheorie geübt habe, so möchte ich an das Goethesche Wort erinnern: "Man ist gegen nichts35| strenger als gegen erst abgelegte Irrtümer."

6Halle, a. ┌d.┐2 S., 21. Mai 1900.3

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